Herbert Wüscher vergisst sich selbst, wenn er singt. Dann ist er nicht mehr der unruhige, der von Natur aus hektische Herbert Wüscher, sondern der konzentrierte Herbert Wüscher. An diesem Frühlingsnachmittag steht der ausgebildete Opernsänger vor einem Bekleidungsgeschäft auf dem Mainzer Domplatz.
Der Dreiundvierzigjährige legt ein graues Tuch auf den Boden, darauf kommen Visitenkarten und eine Lebkuchendose für die Gage. Dann stellt er eine rote Plastiktüte ab und holt daraus einen Ghetto-Blaster. Mit der Fernbedienung lässt er die Hintergrundmusik zu seinem ersten Lied von der CD abspielen. Panis Angelicus. „Das singe ich immer am Anfang“, sagt Wüscher. Damit schwinge er sich ein, das Lied gebe ihm Energie.
Bis vor wenigen Minuten haben hier noch Marktverkäufer Salate, Eier und Kartoffeln angepriesen. Nachdem die Verkäufer ihre Stände abgebaut haben, schrubben drei Reinigungsfahrzeuge Herbert Wüschers Bühne sauber. Als er die ersten Töne des Liedes anstimmt, versammeln sich sofort einige Menschen vor dem Sänger. Wüschers Publikum trägt keine Seidenkleider, keine Anzüge, sondern Jeans und Kapuzenpullover. Es sitzt nicht auf roten Samtstühlen, versteckt im Dunkel eines Saales, sondern steht direkt vor dem Friedberger Tenor und schaut ihn an. Eine Frau sagt, der Sänger solle sich bei einer Castingshow bewerben.
Seit Herbst vergangenen Jahres singt Herbert Wüscher ein bis zwei Mal auf dem Domplatz in Mainz. Eine besondere Genehmigung braucht er dafür nicht. Früher hat er auch einmal in Frankfurt auf dem Römer seine Lieder vorgetragen. Wüscher sagt, das sei jetzt nicht mehr möglich, weil die Stadt die Musik aus dem Ghetto-Blaster nicht dulde.
„Ohne Playback würde ich nur herum stehen“
An einer Musikfachschule hat Wüscher in den neunziger Jahren drei Jahre Gesang studiert und erhielt nach seinem Abschluss sofort eine Stelle am Würzburger Theater. Nach einem weiteren festen Engagement in Chemnitz und einer Zeit als Aushilfssänger in Wiesbaden, Freiburg und Frankfurt wurde der Tenor krank, fiel für ein Jahr aus und verlor die Kontakte in die Musikbranche. „Es ist nie einfach als Sänger eine Stelle zu kriegen“, sagt er. Während seiner Krankheit habe er sich nicht richtig um seine Agenten gekümmert und sei in „so eine Art Loch“ gefallen. Dann kam einem Kollegen von Wüscher die rettende Idee. Straßenmusik. „Ich habe mich in die Nähe einer Kirche gestellt und mich von allem, was um mich herum war, abgeschottet.“ Wüscher habe sich in dem Moment gedacht, er singe einfach dem „lieben Gott mal ein schönes Lied.“ Damit konnte er seine Aufregung bekämpfen.
Dennoch sei jeder Auftritt eine Mutprobe, sagt der Sänger. Er wisse nie, wie die Leute reagierten und ob sie wirklich jemandem zuhören wollten, der klassische Meisterwerke auf der Straße interpretiere. Dazu singt Wüscher auch mit einem Ghetto-Blaster im Rücken zu Halbplayback. Doch das sei nötig, weil es bei einigen Stücken lange Pausen gebe, die Wüscher aushalten müsse. „Ohne Playback würde ich nur herum stehen“, sagt Wüscher. Dann würden die Geräusche des Alltags, die hupenden Autos und die lauten Kinder Oberhand gewinnen und den Zauber des Moments zerstören. Anfangs hätten ihn die Auftritte auf öffentlichen Plätzen herausgefordert. Ein bisschen Angst sei damit verbunden gewesen. Er befürchtete, die Menschen würden ihn ignorieren.
Weder Pavarotti noch Paul Pott
Obwohl Wüscher an diesem Tag etwas erkältet ist, kommt er gut beim Publikum an. Viele Menschen bleiben stehen, applaudieren laut, werfen Ein- und Zwei-Euro-Stücke in die Lebkuchendose. Vor allem von Giacomo Puccinis „Nessun Dorma“, das viele nur noch vom englischen Handyverkäufer Paul Potts kennen, sind die Zuhörer begeistert. Es ist Wüschers Lieblingslied. Doch der Tenor aus Friedberg will sich weder mit Pavarotti noch mit Paul Potts vergleichen. Sie seien alle Unikate.
Wüscher sagt, einige Zuhörer glaubten, er würde nur seine Lippen bewegen. Doch für die Zweifler habe er sich etwas ausgedacht. „Ich schalte dann bewusst den Ghetto-Blaster aus und halte die letzten Töne eines Liedes ohne Musik.“ Manche seien erst dann von der Ehrlichkeit des Sängers überzeugt.
Mit den Kirchenglocken angelegt
Wüscher, der sein Geld als Aushilfssänger verdient, würde gern wieder fest eingestellt an einem Opernhaus singen, doch die Straßenmusik habe auch ihren Reiz. Wenn er die Leute fessele und vom Autolärm ablenken könne, dann sei er zufrieden. Einmal habe er sich allerdings mit den Glocken einer Kirche angelegt. „Wenn man auf das Playback hören muss und nebenbei die Glocken läuten, das haben mir meine Ohren nicht verziehen.“
Wenn der Tenor auftritt, dann singt er am Tag drei Mal sieben bis acht Stücke. Je nachdem, ob die Sonne scheint und wie warm es ist, nimmt Wüscher unterschiedlich viel Geld ein. Mal sind es nur 40 Euro, mal erhalte er allerdings auch bis zu 180 Euro an einem Tag. Leben kann er davon nicht. Vielleicht beginnt er deswegen jeden Auftritt mit dem gleichen Lied. Panis Angelicus handelt vom Brot der Armen.